Thema: Vorurteile
Oft gehe ich durch die Stadt und denke mir bei diversen Leuten „Oh man, wie kann man nur so rumlaufen?“. Um ehrlich zu sein mach ich mir zu Beginn des Frühlings oft eine Freude daraus, mich mit einem Kaffee in die Fußgängerzone zu setzten und die Modeneu- und alterscheinungen des kommenden Jahres zu betrachten. Eine wahre heimliche
Freude auf Kosten anderer.

Vorurteile machen uns das Leben leichter. Vorverurteilungen helfen uns nicht nur Menschen, sondern auch Informationen in bestimmte Schubladen zu stecken, um die ganze Flut aus Dingen die täglich auf uns einprasseln zu verarbeiten. So sortiert man Wichtiges und Unwichtiges. Schon kleine Kinder lernen in dem sie Kategorien bilden, in welche sie Neues dem Bekannten zuordnen. Anders als wir haben Kinder meistens aber noch die Fähigkeit unvoreingenommen an die Dinge ran zu gehen. Darauf will ich eigentlich hinaus. Unvoreingenommenheit.
Wie die Zusammenfassung auf der Rückseite eines Buches, wie der kurze Abriss vor einem langen Text, so präsentiert sich auch das Äußere eines Menschen auf den ersten Blick. Hast du schon mal ein Buch oder einen Artikel gelesen, dessen Zusammenfassung auf den ersten Blick nicht so ansprechend und gelungen klang, dich dann aber trotzdem in seinen Bann gezogen hat? Was hast du dir danach gedacht?
Andererseits kann sich eine prickelnde, interessante Zusammenfassung aber oft auch zu einer faden Ausschweifung über Belanglosigkeiten entwickeln.
Worauf ich hinaus will, trotz aller Vorverurteilungen, die jeder von uns vornimmt, kommt es vor allem darauf an, wie wir dem Menschen letztendlich gegenübertreten, wie frei wir sind uns unsere eigene Meinung zu bilden. Ob wir ihm die Chance geben zu zeigen, was nach seinem Klappentext (bzw. seiner Kleidung) kommt. Dabei meine ich nicht nur die meist eh unfreundlich Behandlung und Betrachtung der Randgruppen unserer Gesellschaft (Arme, Wohnungslose, Ausländer, Arbeitslose, Punks und diverse andere Subkulturen, usw.),
ich meine auch die adrett gekleideten Menschen denen wir aufgrund dessen schon Respekt entgegenbringen, dass sie sich ordentlich kleiden können. Ich meine auch den Anzugträger, sei es jetzt ein Dunkler mit Schlips, oder ein Weißer mit Stethoskop. Ich meine auch alle klugen Köpfe die uns täglich erzählen was warum in der Welt geschieht. Vorverurteilungen sind vertretbar, wenn sie mein Verhalten dem anderen gegenüber nicht so weit bestimmen dass ich mir kein eigenes Bild mehr machen kann.

Vor kurzem hatte ich ein interessantes Gespräch. Es ging um die Umbenennung eines Platzes in Jena der nach dem Begründer der Jena-Plan-Pädagogik Petersen benannt war. Petersen kam in die Kritik, da er während der NS-Zeit rassistische und antisemitische Thesen vertrat. Daher sollte der Platz umbenannt werden. Das Gespräch lief in die Richtung, dass ich der Meinung war, dass man Petersen vorwerfen kann, das nationalsozialistische Regime angeblich nicht durchschaut zu haben, sei eine Lüge. Als Erziehungswissenschaftler, als Studierter, im besten Fall kritisch denkender Reformpädagoge, müsse er doch verstanden haben, was da vor sich geht. Mein Gesprächspartner erwiderte meinen Vorwurf mit einer Unterstellung, die mir bis heute im Kopf rumschwirrt. Er meinte, dass dies „Stigmatisierung nach oben“ sei. Petersen sei zwar ein Mann mit akademischen Grad gewesen, aber deswegen von ihm zu verlangen er müsse alle Zusammenhänge aufnehmen, verstehen und richtig beurteilen sei eine Zuschreibung/Unterstellung von Merkmalen (auch wenn diese positiv sind), eine Stigmatisierung nach oben also.
Puh! Was sagt man darauf? Erst mal hab ich nichts erwidern können. Nach längerem Nachdenken musste ich ihm recht geben. Aber... tja, aber was?
Im grundgenommen hat er recht, auch wenn man Einwände erheben kann.

Nur weil jemand arbeitslos ist heißt das nicht, dass er nicht willig ist zu arbeiten.
Nur weil jemand Umweltmanagement studiert, verhält er sich noch lange nicht umweltfreundlich.
Ein Ökonom kann auch den Menschen im Blick haben und nicht nur den, ihm in der Ökonomie, untergeordneten Menschen.
Auch ein Arzt irrt sich mal und muss seinen Blickwinkel auf alternative Möglichkeiten erweitern.
Wie der Ökonom einen Menschen in den Mittelpunkt stellt, so kann der Arzt auch seine eigene ökonomische Lage in den Mittelpunkt stellen.
Nicht jeder Student der über die Regelstudienzeit kommt ist faul und nur am feiern.
Nicht jeder Pädagoge vertritt eine menschenwürdige Pädagogik.
Die meisten Ausländer kommen nicht wegen Deutschlands Sozialleistungen.
Der Polizist der betrunken Auto fährt ist eine Schlagzeile wert. Und warum? Weil es ihm keiner zutraut, dass er das Gesetz missachtet, welches er eigentlich vertreten soll.
Auch ein Lehrer der Oberstufe kann nicht alles wissen.

Auf was kann ich mich noch verlassen, wenn nicht mal die Unterstellungen von Merkmalen an vermeintlich höherrangige Menschen einen Gehalt haben? Die Tatsache, dass Menschen nicht aufgrund ihres Aussehens, ihrer Herkunft stigmatisiert werden dürfen, haben wir erkannt. Die Tatsache, dass man auch positive Merkmalszuschreibungen an bestimmte Menschen-/ Berufsgruppen nicht einfach so hinnehmen darf, wird schwieriger, erfordert mehr Aufmerksamkeit und Mut. Immerhin ist es ja schon bequem sich auf die Urteile von Menschen zu verlassen, denen man Wissen unterstellt. Ungefähr genauso unbequem ist es diese Autoritäten in Frage zu stellen.


Wer es auch gern mal ein wenig unbequem haben möchte:
o Dem Arzt auch mal wiedersprechen wenn man Bedenken zu seinem Urteil hat.
o Den Arbeitslosen mit demselben Respekt behandeln den ein Arbeitender erhält.
o Sich seiner Vorurteile bewusst werden und sie hinterfragen.
o Auch Journalisten dürfen kritisch hinterfragt werden.
o Auch ein Richter, Polizist, Lehrer, Politiker oder sonst welche gesellschaftlich anerkannte Personengruppe kann sich mal täuschen.